Kleine Zeitung „Bergen, Tälern und Seen fehlt die Lobby“
64 WAS SICH ÄNDERN MUSS
„Bergen, Tälern und Seen fehlt die Lobby“
Die Flächenwidmung und der Ausverkauf der schönsten Plätze für Spekulationsimmobilien haben dem Land geschadet. Ein Prozess, der umkehrbar ist, wenn man sich neuen Ideen zuwendet.
Artikel von Thomas Cik
Wenn man die Flugscham überwindet, sieht man das Beschämende: Kärnten aus der Vogelperspektive. So schön die kalkgrauen Berggipfel und türkisen Seen auch sind, die unzählbaren Sprenkel auf herbstlichen Wiesen und inmitten verfärbter Wälder sind jeder für sich Beleg eines der größten Probleme dieses Bundeslands: seine Siedlungsstruktur.
„In den letzten 30 Jahren wurden viele Fehlentscheidungen in der Raumordnung und auch beim Bauen getroffen“, bringt es Raffaela Lackner auf den Punkt. Zehn Jahre leitete sie das Haus der Architektur in Klagenfurt, nun treibt sie im Auftrag des Landes Kärnten die Baukultur voran. Und da gibt es eine Reihe von Defiziten im öffentlichen Bewusstsein zu beseitigen. „Die Allgemeinheit beginnt erst langsam zu begreifen, dass der Umgang mit der Ressource Boden nicht täglich mehrere fußballfeldgroße Versiegelungen verträgt“, sagt Lackner. Das Problem daran: Egal, ob für zentrumsferne Einkaufsmärkte, Einfamilienhausgebiete, Tourismuserschließungen mit Hotels und zugehörigen Zweitwohnsitzen oder für sonstige Spekulationsimmobilien: Auch die autogerechte Infrastruktur entstand immer mit. Und zwar irreversibel. Zudem verursachen die Widmungsexzesse auf kommunaler Ebene dauerhaft Kosten. Nicht umsonst ist die Gebühr für das Stromnetz nirgendwo so hoch wie in Kärnten.
Das Problem ist also weit komplexer, als der Blick auf ästhetische Motive aus der Vogelperspektive. Die Lösungsansätze dazu kennt man mittlerweile: Bausubstanzen erhalten und renovieren, statt permanent neu zu bauen und dabei Emissionen und Versiegelungen zu verursachen, wird da am häufigsten genannt. Postwendend folgt die Kritik, dass man kaputtspare, Weiterentwicklungen blockiere. Ein Bodenschutzgesetz wurde ja mit dem Argument verhindert, man wolle Gemeinden nicht die Chance auf Weiterentwicklung nehmen. „Wobei das Argumente sind, die sich nicht mehr stellen, wenn man sich getraut, weiter nach vorne zu blicken“, sagen die Architektinnen Klaudia Ruck und Sonja Gasparin – und zwar unabhängig voneinander.
Ruck steht dazu, keine Vorstellung zu haben, in welche Richtung sich die Welt in den nächsten 120 Jahren entwickeln wird. „Wohl aber kann man sehen, dass die Geschwindigkeit des Wandels eine viel höhere sein wird, als wir sie in den letzten 120 Jahren erlebt haben.“ Entsprechend müsse man jetzt große Ziele ins Auge fassen, wenn man sie erreichen wolle. Etwa „den Rückkauf des Familiensilbers für die Allgemeinheit“. Schlagworte, die sie konkretisiert: Liegenschaften entlang des „Straßendorfs zwischen Villach und Klagenfurt“ oder auf den Bergen. Die Finanzierung sei für sie nicht die Kernfrage, „denn Leerstände, die für den Tourismus nicht mehr nutzbar sind, werden sich viele auf Dauer auch nicht leisten wollen“. Ihre Vision: die Orte für die Menschen wieder zugänglich machen, „als Wohn-, Kultur- oder Naturraum – und das mit einer Infrastruktur, in der sich nicht jeder individuell motorisiert bewegen muss“.
Nicht minder radikal – zumindest in den Augen unmittelbar Betroffener – ist ein Gedankengang der Architektin Sonja Gasparin. „Wir alle kennen die Seepromenade in Bled, die entlang des Ufers im Wasser gebaut wurde. Da kann man direkt am Wasser spazieren. Warum baut das Land zwischen seinen öffentlichen Zugängen nicht solche Wege um den Menschen wieder den Zugang zu den Seen zu geben? Die Seen stehen ja im Eigentum der Bundesforste, rechtlich ist das keine Herausforderung“, wagt auch sie einen weiten Wurf in der Debatte um die Verteilung des öffentlichen Raums. Die Gegner dieser Idee betrachtet sie mit Gelassenheit: „Das sind Menschen, die in den drei Wochen im Jahr, in denen sie ihre Liegenschaft nutzen, meinen, ihnen werde etwas genommen.“ Dass solche Wege sich nicht um ganze Seen winden würden, sei klar, „es gibt Schutzzonen, Orte, an denen dies einfach auch baulich nicht möglich ist. Aber das Land sollte zumindest die Planung angehen.“
Aber auch die Demografie, also das (Über-)Altern der Gesellschaft, müsse in einem Wandel der Baukultur ihren Niederschlag finden. „Die Generation, die sich ihren Traum vom Einfamilienhaus erfüllt hat, lebt nun dort recht einsam“, analysiert Ruck. Auch hier hätte Architektur Lösungen abseits des generationenübergreifenden Haushalts des 19. Jahrhunderts. Gasparin nennt etwa Baugruppen, wie sie in der Schweiz oder Wien in den letzten Jahren verstärkt aktiv waren. In der Natur seien Monokulturen mittlerweile verpönt, auch in der Architektur und im Bau müsse sich dieser Gedanke durchsetzen. „Ein Gebäude nur für die Alten, eines nur für die Jungen. Das funktioniert nicht und man sieht ja die Kosten, die die Vereinsamung für das Sozial- und Gesundheitssystem mit sich bringt“, sagt Gasparin. Würde man diese Gedanken in der Planung berücksichtigen, wären Ortskerne wieder belebter und damit Orte der Begegnung.
Lebensraum bedeutet aber freilich weit mehr als Arbeits- oder Wohnraum. Wenngleich man in Kärnten, formal betrachtet, nicht von unbelassener Natur, sondern von einem bewirtschafteten Kulturraum bis hinauf unter die höchsten Berggipfel sprechen muss, ist der Landschaftsschutz in den nächsten Jahrzehnten mehr denn je auf der Agenda. Ernährungssouveränität, Erlebnisqualität, die kulturelle Identität – „Berge, Täler und Seen, die Landschaft hat einfach keine Lobby.
Daher darf ihr Schutz auch nicht an Einzelinteressen gekoppelt sein“, mahnt Lackner einen ganzheitlichen Blick auf das Thema Architektur, Bauen und Raumordnung ein. Ganz so, wie man ihn aus der Vogelperspektive eigentlich schon hätte.
Hintergrund
Pro Tag werden in Österreich Wiesen und Äcker mit einer Fläche von 16 Fußballfeldern verbaut, das sind 11,3 Hektar. Bereits im Jahr 2002 hat sich die Bundesregierung zu einer Nachhaltigkeitsstrategie verständigt, die den Bodenverbrauch auf 2,5 Hektar pro Tag hätte beschränken sollen.