Bauen am Land: „Das Erbe der Großeltern“
Bauen am Land: Teil 8
BAUKULTUR IM KÄRNTNER BAUER
Schwerpunkt im Rahmen vom Baukulturjahr 2021
von der FH Kärnten, dem Architektur Haus Kärnten und der Landwirtschaftskammer Kärnten
Wie ein verantwortungsvoller Umgang mit den baulichen Relikten der Nachkriegszeit und somit einem großen Teil des heutigen Gebäudebestands gelingen kann.
von Lukas Vejnik (Architekturforscher)
Großsilos bilden eine frühe Schnittmenge zwischen Industrialisierungstendenzen im Bauwesen und in der Landwirtschaft. Für die aufstrebende Moderne in der Architektur des frühen 20. Jahrhunderts waren die aus einfachen geometrischen Körpern zusammengesetzten Speichertürme aus Sichtbeton im mittleren Westen der USA eine häufig herangezogene Inspirationsquelle. In Österreich kam die streng funktionalistische Bauweise in Form der „Lagerhaustürme“ erst nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitet zum Einsatz. Die brutalistischen* Zeigefinger setzten weithin sichtbare Kontrapunkte zur gewachsenen Satteldachlandschaft ländlicher Regionen. Das Auge hat sich an ihr schlichtes Äußeres, das andernorts für Aufregung sorgen kann, gewöhnt. Sie werden als Teil einer infrastrukturellen Landschaft ebenso akzeptiert (oder unbewusst ausgeblendet) wie die Laufkraftwerke entlang der Flussufer oder die Sendemastanlagen auf den Rücken der Berge. Wer schon einmal am Bahnhof von Feldkirchen auf einen Regionalzug gewartet hat oder entlang der Klagenfurter Südumfahrung unterwegs war, kennt zumindest einen der markanteren modernen Kärntner Kornspeicher. Gedanken zu wirtschaftlicher Organisation und technischer Weiterentwicklung fanden zunehmend Eingang in die Architektur der Nachkriegszeit. In der Silo-Silhouette am Klagenfurter Südring hat diese nüchterne Haltung ihre zeitlose Form gefunden. Die erste Baustufe, die heute inmitten einer Familie aus Zylindern erst wiedergefunden werden muss, setzt sich aus differenziert gegliederten Fassaden und geschickt gestaffelten Baumassen zusammen. Rolf Haas, Mitarchitekt der Großsiloanlage, prägte das Klagenfurter Stadtbild mit zahlreichen weiteren Bauten; darunter das kürzlich vorbildhaft sanierte Rothauer-Hochhaus im Zentrum von Klagenfurt und das mit technischen Raffinessen gespickte Clubhaus des Rudervereins Nautilus am Wörtherseeufer.
Fenster für Experimente
Von Lagerhäusern über Wohnsiedlungen bis hin zu Schulbauten und Sportzentren: Ein großer Teil des heutigen Gebäudebestands entstand in den 1950er-, 1960er- und 1970er- Jahren. Nachdem die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Infrastruktur wiederhergestellt und die akute Wohnungsnot in den Städten gelindert worden war, öffnete sich in ganz Europa ein Fenster für architektonische Experimente. Vom Industriebau bis zur Wohnsiedlung ermöglichte die Verwendung vorgefertigter Elemente eine Beschleunigung des Bauwesens. Nicht selten wurde im Namen der Modernisierung intakte historische Bausubstanz abgerissen.
Anstelle von Gründerzeitblöcken und Hofanlagen in ehemaligen städtischen Randlagen traten moderne Setzungen aus Beton, Stahl und Glas. Zahlreiche Relikte des Wiederaufbaus und der sogenannten Wirtschaftswunderjahre haben heute selbst einen hohen Sanierungsbedarf und werden zum Teil mit denselben Argumenten dem Erdboden gleichgemacht, die vor einem halben Jahrhundert ihre Errichtung untermauerten. Dazu kommt, dass in vielen Fällen die Kosten für Abriss und Neubau paradoxerweise geringer ausfallen als für eine behutsame Sanierung. Abgesehen vom Preisfaktor ist der verantwortungsvolle Umgang mit dem jüngeren architektonischen Erbe mit dem sparsamen Einsatz von Ressourcen eng verflochten.
Graue Energie
Für die Rohstoffgewinnung neuer Baumaterialien muss nicht nur der Boden an einem anderen Ort abgetragen werden. Herstellung, Transport, Lagerung und spätere Entsorgung verursachen immer auch Kohlendioxid in Form von grauer Energie. Unter grauer Energie wird die Energiemenge verstanden, die aufgewendet werden muss, damit aus dem Tropfen Rohöl die rosa Dämmplatte an der Fassade, aus dem Sandkorn das Fensterglas für den Wintergarten oder aus dem Brocken Eisenerz der Stahlträger für den neuen Carport wird. Die graue Energie ist der lange Schatten aller industriell hergestellten Produkte, der vom Wohnzimmer bis ins Bergwerk reicht. Im Gegensatz zur Auspuffwolke bleibt sie unsichtbar. Für jeden Quadratmeter Polystyrol werden laut der Datenbank zur Umweltverträglichkeit im Bauwesen (EPiC) der Universität Melbourne 13 Kilogramm Kohlendioxid, für jeden Quadratmeter Isolierglas 100 Kilogramm, für jedes Kilogramm Stahl neun Kilogramm des klimaschädlichen Gases freigesetzt. Um zur Silo- Metapher zurückzukommen: Es ist schwer vorstellbar, wie die Landschaft aussehen würde, wenn die durch Abrisse und Neubauten weltweit emittierte graue Energie ab sofort in Speichertürmen gelagert werden müsste. In diesem Zusammenhang kann ein Abbruch – wenn überhaupt – nur noch die Ultima Ratio darstellen. Abgesehen von den ökologischen Einwänden ist anzunehmen, dass die Abriss-Neubau- Praxis im Wohnbaubereich Auswirkungen auf die über Jahrzehnte gewachsenen sozialen Strukturen hat.
Behutsame Adaptierung
Vermeintlich in die Jahre gekommene Gebäude sind durch behutsame Adaptierung zu zeitgemäßen, gemeinschaftlichen Wohnformen erweiterbar. Die Transformation eines bestehenden Wohnblocks in Saint-Nazaire durch Lacaton & Vassal-Architekten ist ein gelungenes Beispiel dafür, dass das Weiterbauen nicht zwangsläufig teurer sein muss. Neben zwei neuen Flügeln für zusätzliche Wohneinheiten bekamen die bestehenden Wohnungen in dem elfgeschossigen Turm geräumige Wintergärten vorgehängt. Die von der Europäischen Kommission initiierte Sanierungswelle zur Erhöhung der Renovierungsquote von Gebäuden könnte einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass es in Zukunft mehr von diesen Projekten bis zur Realisierung schaffen. Nicht nur an die Bauten, auch an manche Konzepte der 1960er- und 1970er-Jahre lohnt es sich anzuknüpfen. Dass auch in der Fläche sparsam mit der Ressource Boden umgegangen werden kann, zeigen selten realisierte Ansätze verdichteter Flachbauten aus Hofund Reihenhäusern. In Kärnten kam dieses Prinzip bei der Karawankenblicksiedlung zur Anwendung. Von den zusammengerückten Hausbausteinen aus Stahlbetonfertigteilen im Zentrum der Anlage verfügt jede Wohneinheit über einen privaten Außenraum mit Garten. Perfektioniert haben diese Bauweise der Architekt Roland Rainer mit der Siedlung Puchenau bei Linz und das Schweizer Atelier 5 in Halen bei Bern. Das Innere der Häusergemeinschaften ist autofrei. Beide Entwürfe zeichnen sich durch kleinstmöglichen Flächenverbrauch bei maximaler Privatheit in den Wohnbereichen aus. Aus heutiger Perspektive wirken sie wie Testballons inmitten einer von Eigenheimwolken bedeckten Großwetterlage. Das Erweitern bestehender Strukturen, ständiges Reparieren sowie Strategien der Nachverdichtung von Wohnsiedlungen sollten deshalb an erster Stelle stehen. Die sparsame Bauweise historischer Wohnscheiben und Hochhäuser reduzierte nicht nur Errichtungs- und Betriebskosten, sie nahm rückblickend auch weit weniger Fläche in Anspruch als eine Einfamilienhaussiedlung. In den großzügigen Zwischenräumen kann zusätzlicher qualitativer Wohnraum entstehen. Der schonende Umgang mit auf den ersten Blick oftmals spröde wirkenden Rohlingen aus der Nachkriegszeit ist nicht nur eine Geste der Wertschätzung gegenüber dem Erbe der Großelterngeneration. Mit beständiger Pflege des Baubestands steigt die Chance, dass auch kommende Generationen in Zukunft auf einer bewohnbaren Erde leben können. Die markanten Silotürme auf Bahnhofsarealen und entlang von Ausfallstraßen erinnern durch ihre sparsame und funktionelle Bauweise täglich daran.